Heute habe ich gelesen, dass offenbar ein defekter Radiohöhenmesser die Boeing 737 im Anflug auf Schiphol zum Absturz brachte, weil das Auto Throttle-System- nach den falschen Daten des Höhenmessers dem Jet den Antrieb nahm, woraufhin ihn der Autopilot in 150 Metern Höhe stallen und schließlich abstürzen ließ. Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist – dass das Versagen eines einzelnen Systems solche Konsequenzen haben kann.
Offenbar hat sich das Unglück so abgespielt: Die Boeing 737-800 befindet sich am 25. Februar 2009 kurz vor halb zehn Uhr morgens im Anflug auf die Landebahn 18R des internationalen Flughafens von Amsterdam, “Schiphol”. Die Maschine kommt aus Istanbul und hat 128 Passagiere und 7 Crewmitglieder an Bord. Im Cockpit sitzen heute drei Mann -der mit über 15.000 Flugstunden sehr erfahrene Kapitän Hasan Tahsin Ar?san, sein Erster Offizier Olgay Özgür – der die Maschine bei diesem Anflug steuert – und Murat Sezer, ein junger Pilot in der Ausbildung, der auf dem “Jump Seat” zwischen den beiden Piloten sitzt und diese bei der Arbeit beobachtet.
Der Unglücks-Jet, eine Boeing 737-800, ausgeliefert 2002. Foto: Jürgen Lehle http://albspotter.org/de/showphoto/3209533979 )
Die Maschine bekommt die Anflugfreigabe für die “18R” , kurz darauf befindet sie sich im Endanflug. Das Wetter ist nicht besonders gut an diesem Morgen: es weht ein leichter Wind aus Südwest, die Sicht am Boden beträgt viereinhalb Kilometer im Dunst. 700 Fuß über dem Boden hängt eine lockere Wolkenschicht, weiter durchbrochene Layer in 800 Fuß. In 1000 Fuß liegt eine geschlossene Wolkendecke. Kein Wetter für Ultraleichtpiloten, kein großes Problem für einen geübten IFR-Hobbypiloten, gar kein Thema für einen Airline Piloten.
Die Maschine ist im Anflug, nach allem, was ich weiß, zu schnell und kommt von oben auf den Glideslope des ILS. Um die Geschwindigkeit zu verringern, bringt die automatische Schubregelung die Triebwerke auf Leerlauf (“idle”), während der Autopilot die Maschine auf den richtigen Anflugkurs und auf den Gleitweg steuert. In dieser Phase, 1950 Fuß über dem Boden, tritt an einem der beiden Radarhöhenmesser offenbar eine Störung auf, er liefert plötzlich den völlig falschen Wert von “-8 Fuß”.
Der falsche Wert geht in das Auto Throttle-System ein, das während des Landeanflugs dafür sorgen soll, dass die Triebwerke ausreichend Schub für die gewählte Speed liefern. Das System ist darüber hinaus so programmiert, dass es den Schub in wenigen Fuß Höhe, also kurz vor dem Aufsetzen, ganz heraus nimmt. Mit den falschen Daten versorgt, bringt “Auto Throttle” deshalb in 2000 Fuß die Triebwerke in den Leerlauf, und selbst als die Maschine durch den Gleitweg des Instrumentenlandesystem sinkt, erhöht die Automatik den Schub deshalb nicht mehr.
Der Autopilot aber versucht währenddessen weiterauf dem richtigen Gleitweg zu bleiben. Und da die Triebwerke keinen Schub liefern, muss er nun sukzessiv und immer weiter den Anstellwinkel vergrößern – also die Nase der Maschine hoch nehmen – um auf diese Weise für ausreichend Auftrieb zu sorgen.
Der Autopilot hat jetzt nur diese eine Möglichkeit, um auf dem Gleitweg zu bleiben – selbstständig Gas geben, um die Höhe zu halten, kann er nicht, denn dafür ist das Auto Throttle-System zuständig. Dieses aber ist wegen der Fehlfunktion des linken Radarhöhenmessers bereits im “Retard”-Modus für das Aufsetzen und “denkt” gar nicht daran, den Schub wieder zu erhöhen, um den Autopiloten dabei zu unterstützen auf dem “Glide Slope” zu bleiben. Der “Glide Slope” ist dem Auto Throttle-System egal, es kümmert sich im gewählten Modus nur um die Höhe über dem Boden.
Anders wäre es wohl gewesen, wenn die Maschine für eine vollautomatische Landung konfiguriert worden wäre. In diesem Fall hätte das System auf beide Radarhöhenmesser zurückgegriffen – und eine größere Abweichung zwischen den beiden Höhenmessern hätte zur Folge gehabt, dass sich das System abgeschalten hätte. Die Crew hätte dann den Anflug von Hand zu Ende bringen müssen.
Insgesamt, so wird der geborgene Datenrecorder später beweisen, sind die Triebwerke über 100 Sekunden im Leerlauf als sich die Katastrophe anbahnt. Die Geschwindigkeit nimmt in dieser Zeit bis auf 83 Knoten (154 km/h) ab, etwa 140 Knoten (260 km/h) hätten es in dieser Flugphase für THY 1951 sein müssen. Offenbar fällt keinem der drei Mann in der Kanzel der dramatische Geschwindigkeitsverlust auf, und das obwohl die Auswertung des Cockpit Voice Recorders (CVR) später beweisen wird, dass sich die Piloten des defekten Höhenmesser durchaus bewußt sind, nachdem das System sie durch ein akustisches Warnsignal (Bedeutung: “landing gear must go down”) auf den fehlerhaften Radarhöhenmesser hingewiesen hat.
Offenbar aber scheinen sie dieser Warnung keine große Bedeutung beizumessen. Daraus kann man auch schließen, dass keinem der drei Piloten in diesem Moment klar ist, in welche ausweglose Situation das defekte automatische System den Jet nun bringt. Warum “scannt” der Kapitän, der nicht steuert! – während so langer Zeit offenbar nie die wichtigsten Parameter? (Es wäre unfair, dem dritten Mann im Cockpit hier eine Verantwortung zuzuschreiben, der in dieser Situation schon aus psychologischen Gründen nicht in der Lage gewesen sein kann, den Fehler zu erkennen – schließlich fliegt er mit einem der erfahrensten Kapitäne der türkischen Airline mit angeblich 5000 Stunden auf Düsenjägern! Kein Eleve kritisiert einen solchen Boss, und ich nehme an, dass das in der Türkei sogar noch unwahrscheinlicher ist).
So könnte es passiert sein: Animation des Absturzes aus youtube
Dass weder der Kapitän noch der steuernde Erste Offizier im Endanflug ein Auge auf dem Fahrtmesser haben, ist nahezu unglaublich. Das ist schließlich fliegerisches Basis-Handwerk und für jeden Segelflieger und Freizeitpiloten selbstverständlich. Wie konnte den Piloten das Absinken der Speed auf knapp über 80 Knoten entgehen, wenn sie schon nicht bemerkten (was in Wolken passieren kann), wie der Autopilot immer weiter die Nase der 737 hoch nahm, um auf dem Gleitweg zu bleiben.
Als sie es dann doch bemerken, ist es zu spät. Offenbar – wenn ich die veröffentlichten Informationen richtig interpretiert habe – gibt der das Flugzeug vom rechten Sitz aus steuernde Erste Offizier noch einmal vollen Schub, begeht dabei aber den Fehler, die Triebwerkshebel nicht festzuhalten. Sofort nimmt das Auto Throttle-System den Schub wieder heraus, es wähnt den Jet schließlich auf der Bahn.
So aber passiert, was passieren muss: Der Autopilot fliegt die Maschine im “verzweifelten” Bemühen, die Höhe auch ohne Antrieb zu halten, in den überzogenen Flugzustand. Als der “Stick Shaker” an der Steuersäule rüttelt und kurz darauf löst die Stall Warning (Überziehwarnung) aus.
Offenbar hat in den letzten Sekunden der Kapitän das Kommando noch einmal übernommen und vollen Schub gegeben, aber in nur 150 Metern Höhe reicht es nicht mehr: mit 94 Knoten (175 km/h) schlägt die Maschine im Sackflug mit dem Heck zuerst auf einem weichen Acker, eineinhalb Kilometer vor der Landebahn auf. Die extreme Verzögerung, verursacht vor allem durch das sich tief in den Acker eingrabende Bugfahrwerk läßt den Rumpf in drei Teile zerbrechen und kostet neun Menschen das Leben, darunter alle drei Piloten.
THY 1951 kurz nach Absturz, 1, 5 Kilometer von der Schwelle eder Landebahn 18R des Amsterdamer Flughafens.
Foto: Radio Nederland Wereldomroep / Fred Vloo
Es ist natürlich zu einem gewissen Grad Spekulation, aber es spricht einiges dafür: Hätten die Piloten in dieser Situation, offenbar nur 150 Meter über dem Boden, den “TO/GA”-Schalter betätigt, wäre die Maschine beinahe vollautomatisch durchgestartet, nur die Klappen und das Fahrwerk hätte die Crew betätigen müssen. Der “TO/GA”-Switch hätte sämtliche eingestellten Autopiloten- und Auto Throttle-Modes übersteuert, und die Bodenberührung hätte so wahrscheinlich verhindert werden können
Ich bin kein Airline-Pilot und meine Erfahrung mit Verkehrsflugzeugen beschränkt sich auf ein paar Simulatorstunden und einen Flug in einer ATR 72-500 vom rechten Sitz – und deshalb sind wahrscheinlich ein paar der o.g. technischen Details verkürzt dargestellt, wenn auch hoffentlich nicht falsch. Aber folgende Fragen drängen sich mir auf:
- Wie kann es geschehen, dass eine Crew mit so großer fliegerischer Erfahrung, die wichtigsten fliegerischen Parameter so komplett und so lange ignoriert?
- Wie kann es sein, dass das Autopiloten/Auto Throttle-System nicht einmal über so viel Redundanz und eingebaute Sicherheit verfügt, dass ein defekter Höhenmesser allein ein so lebenswichtiges System wie die automatische Schubsteuerung dermaßen “versagen” lassen kann? (Es hat natürlich nicht versagt, sondern genau das getan, wofür es konstruiert wurde. Aber wenn das System so programmiert wäre, dass es bei einer essentiellen Abweichung der beiden Radar Altimeters voneinander warnt und sich ggf. abschaltet, hätte der Unfall kaum passieren können)
- Warum fließen in die elektronische Logik des Autothrottle-/Autopiloten-Systems nicht Parameter wie etwa die Entfernung zur Landebahn ein? Das Flight Management System mit seinem Computer “weiß” doch genau, wo im Anflugweg sich das Flugzeug befindet? Warum verhindert eine so unlogische Datenlage wie “1, 5 Kilometer vor der Bahn, zweiter Höhenmesser auf 2000 Fuß” und andere Parameter nicht, dass das Auto Throttle-System in den Retard-Modus gehen kann?
- (Hätte derselbe Unfall auch mit einem Airbus A320 geschehen können? Oder hätte das “Alpha Floor Protection”-System des A320 ein solches Szenario verhindert?)
Hat jemand Antworten auf auf diese Fragen?